Das war wirklich ein guter Morgen, nein, ein grandioser Morgen dachte ich mir, als ich morgens direkt neben Günther aufwachte. Sein raues, sanft-ledriges Fell rieb an meinem hübschen Bauch und ich nahm mir noch ein paar Momente der Nähe mit ihm. Er schlief noch tief, seine Schnauze auf einen der kräftigen Vorderfüße gelegt, träumte sicher wieder seinen Lieblingstraum. Einmal hatte er mir von ihm erzählt, seine Augen voller Melancholie im Angesicht unseres eigenen Lebens. Von den immergrünen Weiden, den schattigen Bäumen und einem Bach kristallklaren Gletscherwassers. Was war das überhaupt, kristallklar? Er hatte von den Schmetterlingen geschwärmt, die ihm morgens weich die Augen öffneten, von den saftigen Äpfeln die wohl keine andere Bestimmung hätten als unsere Mägen zu beglücken, und dann hatte er von den Kühen geschwärmt. “Gerda”, hatte er säuselnd erzählt, “Du glaubst nicht was für Kühe es da gab! Die haben keine Hörner, keine Haare am Bauch und sind so farbig wie die Kleidung unserer Nachbarn! Die haben Flecken wo auch immer sie wollen. Und intelligent sind sie auch noch obendrauf, das sind so richtige Prachtkühe!”

Traurig erinnerte ich mich jetzt an diesen Moment, der Moment, als mir klar wurde, dass das mit Günther und mir nie so werden würde wie mit diesen Traumrindern. Einmal hatte ich mir einen verboten aufreizenden Schlammfleck an meinen Hintern geschmiert, mich in seine Nähe gelegt und aufreizend meine Wimpern geschlagen. Es war ihm zwar auch aufgefallen, aber interessiert hatte es ihn nicht. “Du hast da ein wenig Dreck am Hintern, mach dich mal richtig sauber, Gerda!” hatte er nur zu mir gesagt und sich dann wieder seinen Träumen gewidmet. So wie jetzt. Aber auch wenn ich seine Aufmerksamkeit nicht bekommen würde, so blieben mir doch immerhin noch die frühen Minuten in denen ich vor ihm aufwachte. Dann, wenn er noch in seinen Träumen verloren schien, konnte ich seine Nähe genießen, seinen starken Puls fühlen, seine mit vermeintlich grünem Gras gefüllten Kiefer Schmatzen hören und mir vorstellen, was hätte sein können. Heute morgen war ich besonders früh aufgewacht und Günther war noch tief im Traum verloren, außer mir gab es nur noch ein paar Affen und die schon morgens aktiven Papageien, die von der Burgmauer verächtlich auf mich und Günther herunterkrächzten.

“Seid nur nicht zu laut, bitte weckt ihn noch nicht” schickte ich meine stillen Bitten an die grünen Gesellen hoch über mir. Doch die beiden schienen nicht wirklich an mir interessiert. Irgendetwas am Eingang schien ihre Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. Aufgeregt tuschelten sie vor sich hin, blickten noch einmal kurz zu mir und flogen dann direkt zum Burgeingang. Was war es, dass sie so schnell hatte wegfliegen lassen? Witterten sie eine Gefahr? Ich blickte noch einmal zu meinem lieben Günther herüber, dessen Augen schienen sich so langsam mithilfe seiner erträumten Schmetterlinge zu öffnen, und entschied, den Plappermäulen zu folgen. Langsam hob ich meinen stolzen Körper vom Boden hoch, stemmte mich auf die Knie, auf die Hinterbeine und Hepp! Schon war ich neugierig auf dem Weg zum Burgeingang, einem großen, roten Tor, das normalerweise immer geschlossen war. Doch heute war etwas ungewöhnlich. Das Holztor, verziert mit allerlei bunten Mosaiken und Türmchen, die sicher weder mich noch Günther tragen würden, stand sperrangelweit offen. Gerade sah ich noch einen seltsamen Menschen mir einer roten Tasche auf dem Rücken hindurchflitzen, doch schon im nächsten Moment war ich wieder alleine mit dem Tor und zwei geschockten Papageien. Nichts wie hinterher, sagte ich mir, und schlich leise durch die großen Torflügel. Hinter dem Eingang führte ein gepflasterter Weg steil den Berg hoch, wand sich Reihe um Reihe in die Höhe und passierte dabei gleich mehrere kleinere Tore und Tempel. Ich hörte ein paar seltsame Stimmen von weiter oben, konnte aber nichts weiter erkennen. Ich hatte noch nie einen besonders gelenkigen Nacken, einen Makel, für den mich die Nachteulen immer wieder bemitleideten. Also blieb mir nichts anderes übrig als den Stimmen zu folgen. Was hätte ich auch sonst tun sollen?

Einige Minuten später, die Stimmen waren so langsam verblasst, erreichte ich den Haupteingang zum großen Fort. “Das Fort von Gwalior” stand in seltsam geschwungenen Lettern auf einer Infotafel neben dem Eingang. Eine Wache stand am Eingang und kontrollierte gerade die Tickets zweier Menschen, einer mit einem kleinen, roten Rucksack auf dem Rücken. Irgendetwas war krumm mit diesen Beiden. Ich konnte es zwar noch nicht einordnen. Vielleicht war es der Gang, vielleicht auch die Art, wie sie sprachen. Ich kam einfach nicht drauf und nach ein paar kurzen Sekunden der Grübelei waren sie auch schon durch das Tor geflitzt und ich musste hinterher. Die Wache blickte nun mir direkt in die Augen und war sichtlich verwirrt. Vermutlich kam unsereins nicht allzu oft hier hoch, schon gar nicht ohne ein Ticket. Selbstbewusst musste ich also improvisieren. Ich schnaufte ein paar mal laut durch meine Nüstern, schritt mit meiner ganzen Masse auf das Tor zu und zeigte ihm Stolz meine rund geschwungenen Hörner. Auch wenn Günther sie nicht beeindruckend fand, diese lächerliche Wache war da wohl ziemlich anderer Meinung. Er machte schnell ein paar Schritte rückwärts, hob beschwichtigend die Arme, und ließ mich zuletzt ohne einen weiteren Einwand passieren. Es hat eben durchaus seine Vorzüge keine lächerliche Wald- und Wiesenkuh zu sein, dachte ich mir verschmitzt, und zwängte mich durch den engen Eingang. Oben angekommen drehte ich mich im Kreis, lauschte aufmerksam, und hörte wieder ein paar seltsame Sprachfetzen einer mir unbekannten Sprache aus einem Gebäude das als “Königspalast” beschildert war. Aufgeregt schlich ich meinen Ohren folgend die unscheinbare Treppe hoch und betrat einen Raum, den die meisten vermutlich als besonders beeindruckend bezeichnen würden. Alle Wände waren voller verzierter Intarsienarbeiten, grazil geschwungene Säulen stützten eine perfekt Symmetrische Wand voller Malereien und wunderhaften Tierdarstellungen. Da gab es Pfauen, die einen Dachvorsprung stützten, Elefanten die am Ende der Säulen angebracht waren und den ein oder andere Wasserbüffel der mit seinen Freunden, den Menschen, elegant sein Revier markierte. Zu meiner Genugtuung fand ich keine einzige Darstellung einer Wiesenkuh, keine grässlichen Flecken an unangebrachten Körperteilen und verdammt noch mal auch keine farbigen Schnauzen.

Während ich so durch die unterschiedlichen, wunderschönen Räume und Treppen schlich verlor ich aber so langsam die Orientierung. Dieser Palast war ganz schön kompliziert, das war ich von unserer üblichen Burgrunde um die Mauer herum nicht gewöhnt. Hier gab es Treppen in wahrlich jede Himmelsrichtung, unterirdische Verliese und Räume, die mich eher an die 12 edlen Büffel der Tafelrunde erinnerten als an einen gemütlichen Weideplatz. Unter der Burg waren hier Verliese die so gruselig waren, dass ich keine 3 Schritte hineinmachen wollte. Ich kam aber auch an einer Reihe marmorner Fenster vorbei, die so groß und geschwungen waren, dass Günther und ich ohne Probleme auch nebeneinander den Sonnenuntergang hätten beobachten können. Dafür, dass hier einmal ein König mit seinen Weibchen hätte hausen sollen waren hier jedoch bestürzend wenig Weideflächen. Einmal versuchte ich durch eines der Gitterfenster nach draußen zu blicken, aber, ganz im Gegensatz zu den Versprechungen der Infotafel, hier wäre es den damaligen Damen ermöglicht worden, ungesehen nach draußen zu blicken, konnte ich eigentlich überhaupt nichts erkennen. Ich hörte wieder ein paar dumpfe Stimmen. Kam das von draußen? Oh Mist. Nix wie hinterher. Ein paar Minuten hastiger Stolperei durch die engen Gassen des Königspalasts später spürte ich wieder den leichten Hauch einer Brise auf meiner Schnauze. Aber die Fremden waren schon wieder außer Sicht. Zum Glück wiesen mir ein paar der Fledermäuse aus der Burg den Weg. Die hatten ja sonst auch nichts besseres zu tun. Was ist das überhaupt für ein Leben, den lieben langen Tag nur herumzuhängen?

So ging das dann den ganzen Vormittag. Einmal kam ich an einem riesigen Palast vorbei voller Statuen. Da war sogar eine Statue von einem meiner Verwandten, sicher ein direkter Vorfahre meiner eigenen Grauschnauzer, dachte ich mir. Das alles direkt vor einem hunderte Meter tiefen Abgrund, als hätte man es nötig gehabt, den Göttern noch mehr Ausblick zu schenken. Ein zweiter Palast wiederum war ganz anders als alles, was Günther und Ich sonst so von der hitzigen Innenstadt gewöhnt waren. Dort mussten die Besucher ein Kopftuch tragen, die Knie verhüllen und durch eine Pfütze laufen bevor sie ins Innere hinein gingen. Alles in allem eine seltsame Sache. Im Innern waren dann noch mehr, noch schickere Menschen mit Turbanen und Waffen, auch wenn sie mir nicht so schienen, als würden sie diese komisch gewellten Zahnstocher jemals wirklich benutzen. Die Papageien erzählten mir, hier könnten Menschen aller Art zusammenkommen und für nichts als eine kleine Spende mitten auf der Burg übernachten. Das sei eine andere Religion, oder sowas in der Art krächzten sie mir von einer Palme herunter. Und Büffel wie ich seien dort auch nicht willkommen.

Immer wieder konnte ich einen Blick auf die Fremden erhaschen, immer wieder waren sie eine Sekunde schneller als ich und flitzten von Palast zu Palast. Am frühen Nachmittag ging es dann schon wieder den Berg hinunter vorbei an einer Reihe riesiger in den Stein gemeißelter Figuren. Ich hatte kurz zuvor von den Papageien einen heißen Tipp bekommen, dass die Menschlinge vermutlich über den Westausgang die Burg verlassen würden. Zum Entsetzen der hinduistischen Wachen entschied ich, mich direkt vor das Eingangstor zu legen um auch ja nicht zu verpassen, wenn die Fremden hier aufkreuzen würden. Nach einigen Minuten in denen mich ein gleichzeitig pflichtbewusster aber auch um meine religiöse Stellung wissender Wachmann versucht hatte, liebevoll aus dem Weg zu begleiten, kamen sie dann auch. Es war eine hübsche Dame in ungewöhnlich kurzem Kleid und ein fröhlich winkender Lockenschopf, den ich schon von Weitem entdeckte. “Na das ist doch mal was” dachte ich mir. “Schau dir nur an, wie hell die sind. Die haben beide ziemlich seltsame Haare und besonders unfreundlich sehen sie auch nicht aus.” Ich begrüßte sie schnaufend mit meiner höflichen Gleichgültigkeit wie ich es schon in der Kalbsschule gelernt hatte und sie erwiesen mir auch den entsprechenden Respekt als sie ein Foto von mir mit ihrem Handy schossen. Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln a’la “Na, du auch hier?” und “Schönes Wetter heute” konnte ich dann meine Frage nicht mehr verkneifen: “Sagt mal ihr zwei, wie ist denn das mit den Kühen bei euch zuhause? Sind die wirklich so schön und farbig wie man sich erzählt?” fragte ich interessiert. “Unser Kühe?” kam prompt die Antwort. “Naja, wie man’s nimmt. Klar, die haben Flecken und sind durchaus schön, aber eifersüchtig brauchst du auf die jetzt wirklich nicht sein. Bei uns sind nämlich alle Kühe in Gefangenschaft. Sicher, es gibt die ein oder andere die es zum Superstar schafft wie die lilafarbene Milka-Kuh. Die kennt jeder. Aber sonst geht es unseren Kühen nicht besonders gut, sie müssen jeden Tag Milch abgeben und wenn sie das nicht mehr können, dann heißt’s Kopf ab”.

Verwundert ob dieser schauderhaften Neuigkeiten stolzierte ich am Abend wieder zurück zu Günther. Dieser war immer noch nicht richtig aus seinem Schlaf erwacht, bemerkte aber freudig, dass ich wieder zurück war. Anscheinend hatte er mich zumindest ein kleines Bisschen vermisst. “Du ahnst nicht, was ich heute wieder geträumt habe, Gerda!” rief er mir schon entgegen. Natürlich ahnte ich es schon, es war ja doch jedes Mal der selbe Traum. Doch dieses Mal störte mich Günthers ausschweifende Erzählung von den fremden Kühen überhaupt nicht mehr, ich wusste ja was mit ihnen passieren würde. Als Günther seine Erinnerungen vor mir ausgeschüttet hatte antwortete ich also vergnügt: “Weißt du was, Günther? Ich bin froh, dass unser Gras nicht so grün ist wie in deinen Träumen”