Amritsar - Das bessere Indien?

Indien ·   ·  6 min zu lesen

Nachdem unsere Tage in der Hitze und Intensität Rajasthan’s ziemlich lang und intensiv waren wünschten wir uns nichts mehr, als die Ruhe und Gemütlichkeit die wir ein paar Wochen zuvor noch in Thailand erlebt hatten. Wir überlegt sogar, Indien frühzeitig den Rücken zu kehren einfach um der Anstrengung dieses Landes zu entkommen. Doch nachdem wir hin und her überlegt hatten wie wir am besten die nächsten Wochen verbringen wollen würden entschieden wir uns letztlich doch noch die Zeit in Indien so gut wie möglich zu nutzen und eine weitere Region zu entdecken. Wir reisten hoch in den Norden Indiens. Während einer fast 24 stündigen Zugfahrt ging es für uns endlich wieder in Richtung Himalaya. Doch bevor es uns in die Berge zog, war unser letzter Zwischenstopp eine große Stadt in unmittelbarer Nähe zur pakistanischen Grenze. Amritsar, das Zentrum der Sikh-Religion, die wir bisher weder ernsthaft kannten noch verstanden.

Je näher wir dieser Stadt kamen, desto öfter begegneten uns die charakteristischen Turbane die viele Sikh-Anhänger tragen. Aber was ist eigentlich der Sikhismus? Eine ganze Religion einzuführen ist vermutlich zu viel des Guten, aber ganz grob gesagt ist das eine Glaubensgemeinschaft, die im 15. Jahrhundert in dieser Region entstanden ist und im Zentrum derer die Vereinigung der guten Werte ganz verschiedener Religionen steht. Dieser Monotheismus konzentriert sich auf die Gleichheit aller Menschen, lehnt also zum Beispiel das hinduistische Kastensystem vehement ab und verehrt seinen Gründer, den Guru Nanak und dessen Lehren und Nachfolger. Gläubige Sikh tragen zu jeder Zeit einen Turban, einen Dolch oder ein Schwert zur Verteidigung der Armen, einen Armreif, einen Kamm und eine lange Unterhose?! Ein Sikh lässt sich zudem seine Haare niemals schneiden, ins besondere sein Bart scheint heilig. Sie predigen die Freundlichkeit und Offenheit gegenüber jedem Mitmenschen und bieten demnach jedem Schutzsuchenden einen Schlafplatz und ein leckeres Essen. Selbst in den Sikh-Tempeln Europas gilt dies, haben wir uns sagen lassen. Tragischerweise werden die Sikh international oft wegen ihrer auffälligen Kleidung mit extremistischen Religionsgruppen z.B. als extreme Islamisten gelesen, was dazu führt dass es immer wieder zu religiös motivierten Anschlägen und Anfeindungen ihnen gegenüber kommt. Umso trauriger wenn man bedenkt, dass dies wohl eine der offensten und fortschrittlichsten Glaubensgruppe ist der wir bis heute begegnet sind.

In Amritsar selbst ist das Zentrum des Sikhismus. Hier findet sich unter anderem die heiligste Niederschrift des Gurus, welche in einem goldenen Tempel inmitten eines großen, religiösen Komplexes auf einem künstlich angelegten See liegt. Das Buch wird im Sikhismus als eigenständiges Lebewesen behandelt, steht also jeden Morgen aus dem Bett auf, wird dann in den Tempel getragen und Abends wird es wieder aufwändig zugedeckt und ins Bett gelegt. In den Tagesstunden dazwischen wartet es geduldig auf die Abertausenden Besucher die jeden Tag in die Tempelanlage strömen um zum Beispiel entspannt im See ein rituelles Bad einzunehmen, sich lecker in der größten Küche der Welt verköstigen zu lassen oder einfach nur mit ein paar Freunden um das Heiligtum herumzuspazieren.

Das alles hört sich natürlich von außen ähnlich intensiv an wie die anderen Städte und Sehenswürdigkeiten Indiens, doch dieser Eindruck täuscht ziemlich. In Amritsar sind nahezu alle Menschen wesentlich entspannter, offener und hilfsbereiter als an den restlichen Orten an denen wir bisher waren. Wildfremde Menschen kamen schon am Bahnhof auf uns zu, nicht um uns wie sonst vor die bittere Entscheidung zu stellen, entweder ein überteuertes Tuk-Tuk oder ein gezwungenes Selfie mit ihnen zu schießen, sondern vielmehr, um einfach ihre Hilfe anzubieten. Wir wurden zu keiner Zeit in irgendwelche unnötigen Touri-Shops gedrängt, übermäßig lange angehupt oder auch nur schräg angekuckt. Auch wenn Amritsar ein trubeliger Ort ist fühlt es sich als Besucher überhaupt nicht überwältigend an, denn überall sind freundlich lächelnde Menschen die selbst ein bisschen Ruhe in unseren Alltag brachten.

Unser Besuch des goldenen Tempels war vermutlich der entspannteste Besuch eines dem Massentourismus ausgesetzten Ortes auf unserer bisherigen Reise. Nachdem wir uns behelfsmäßig ein paar Stofffetzen als Turban-Ersatz über die Haare gespannt hatten und unsere Hände und Füße vor dem Eintreten gewaschen hatten standen wir auch schon am Ufer des heiligen Sees. Dort angekommen reihten wir uns geschmeidig in die ruhige Menschenmasse ein, beobachteten wie alte, bärtige Sikhs am Ufer badeten oder meditierten und ließen uns einfach treiben. An einer Ecke besangen drei Bärte mit tiefen Bässen eine Prozession mit einem kleineren Ableger der heiligen Schrift der gerade vielleicht ein Mittagessen gegessen hatte? An einer anderen setzten wir uns zu ein paar Jugendlichen die verlegen und sehr höflich nach einem Selfie fragten. So geschmeichelt konnten wir dieses natürlich nicht verwehren und plauderten noch ein paar Minuten in aller Ruhe mit den anderen Besuchern. Als uns dann irgendwann der Hunger plagte gingen wir direkt in die große Kantine und ließen uns zusammen mit ein paar tausend weiteren hungrigen Mäulern große Portionen Dal und Reis mit Roti aufschöpfen. Immer wieder ging ein älterer Bart durch die Reihen und achtete darauf, dass auch wirklich jeder seiner Besucher satt werden würde. Wenn mal einer zu früh einen leeren Teller hatte wurde direkt nachgeschöpft. Völlig überfressen gaben wir nach dem Essen unsere schmutzigen Teller an eine Reihe besonders alter Bärte mit Brillen die sich sogar für unsere Gabe bedankten und fröhlich die Teller weiter nach hinten in die Waschküche reichten. Wir besuchten dann noch die eigentliche Küche und bestaunten die gigantischen Kochtöpfe und die einzelnen Roti-Inseln an denen meist Frauen den Teig auswälzten, über einen großen Tisch warfen und dann auf der anderen Seite über einem metallenen Herd brieten.

Bei unserem Besuch freuten sich alle, nebenbei gesagt komplett freiwilligen, Köchinnen und zeigten uns jede noch so kleine Ecke der Küche. Einer der Köche ging sogar extra mit uns ein paar hundert Meter weiter um uns noch die übermenschlich großen, massiven Reistöpfe zu zeigen, die über einem offenen Feuer erhitzt wurden. Alle paar Minuten wird hier Feuerholz nachgelegt, immer im feurigen Kampf mit den nimmersatten Gläubigern der Mensa. Über 100.000 Besucher würden hier jeden Tag verköstigt erzählt uns einer der Köche stolz und muss dann schon wieder weiterrühren damit auch ja nichts anbrennt.

Als wir nach ein paar wenigen Tagen in Amritsar wieder in den Zug steigen vermissen wir schon wieder diese freundliche Offenheit mit der wir hier in Kontakt getreten sind. Wir haben hier ein viel gemütlicheres Indien kennengelernt. Eines, das sowohl den Trubel als auch die anstrengenden Selfie-Sessions vergessen lässt. Sicher sind wir nun auch etwas versöhnlicher mit unseren anderen Erfahrungen in Indien gestimmt, denn letzten Endes gilt die Grundregel eines jeden Indienbesuches auch hier: Es gibt nicht ein Indien, es gibt Tausende. Manche sind anstrengend, manche sind überwältigend. Aber alle sind super spannend. Jetzt haben wir auch noch einen Kompromiss kennengelernt, der uns unmöglich erschien. Indien kann auch gemütlich und überfüllt zugleich sein.

Robin

Der Ersteller und Maintainer dieses Blogs. Außerdem scheint er gerne zu jonglieren...

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